Rundum die Uhr für die Kinder da sein – eine Entscheidung für mein Leben
Rita Kiefer-Müller und Thomas Müller verabschieden sich nach fast 40 Jahren als Kinderdorfeltern im Bethanien Kinder- und Jugenddorf Eltville in den wohlverdienten Ruhestand.
Im Sommer 1982 startete Rita Kiefer-Müller mit den ersten Kindern ihrer Kinderdorffamilie. Ihr Mann, Thomas Müller, folgte einige Monate später. Haus 1 auf der Marienhöhe in Eltville-Erbach wurde das neue Zuhause von Rita und Thomas. Eigene Bedürfnisse mussten zurückgestellt werden. Die Gestaltung von gemeinsamen Erlebnissen und Ritualen hatte Vorrang mit dem Ziel, als Kinderdorffamilie mit neun Kindern zusammen zu wachsen und Familiensinn zu vermitteln. 1989 kam Ritas und Thomas Sohn Sebastian zur Welt. Sebastian verbrachte seine Kindheit und Jugend in der Kinderdorffamilie. Lesen Sie mehr über die Erfahrungen einer Kinderdorfmutter. Rita Kiefer-Müller gibt einen persönlichen Rückblick auf die Zeit im Bethanien Kinderdorf und spricht gemeinsam mit ihrem Mann Thomas offen über ihre Höhen und Tiefen:
Wie kamen Sie vor fast 40 Jahren als Kinderdorfmutter in das Bethanien Kinderdorf in Eltville?
Rita Kiefer-Müller: Wir haben beide in Wiesbaden Sozialpädagogik studiert. Im Juli 1982 haben wir geheiratet und bereits im Herbst 1982 begann ich meine Stelle als Erzieherin im Kinderdorf. Thomas kam später nach. Das Haus 1 stand damals leer. Die damalige Leitung fragte uns, ob wir uns vorstellen könnten, ein Haus zu eröffnen. Nach zwei Wochen Bedenkzeit haben wir zugesagt, allerdings erst einmal für zwei Jahre. Wir wollten es uns erst einmal anschauen, denn wir waren ja noch jung und Berufsanfänger. Thomas hatte zu diesem Zeitpunkt noch studiert. So fing das alles für uns an. Es war der 2. Januar 1983 als ich das Haus 1 auf dem Kinderdorfgelände bezog. Es waren schon die ersten drei Kinder da, die im Dezember aufgenommen worden sind. Dann begann erst einmal das Chaos. Es wurde mir schnell bewusst, dass wir klare Strukturen und Rituale brauchen. Ich habe damals viel von Schwester Clemens gelernt und übernommen. Es musste sich vieles entwickeln. Das brauchte viel Zeit.
Sie kommen gebürtig aus Landau. Wie wurden Sie damals im Rheingau aufgenommen?
Rita Kiefer-Müller: Eigentlich war es für uns keine große Umstellung. Der Rhein, der weite Blick, das hat uns direkt gefallen. Eine schöne Umgebung hat auch etwas von Erholungswert.
Thomas Müller: Richtig. Die Lage in Erbach auf der Marienhöhe ist einfach toll. Hier fühlt man sich sofort wohl.
Wie sah Ihr Alltag in der Kinderdorffamilie aus? Was war Ihnen wichtig?
Rita Kiefer-Müller: Der Alltag war anfangs geprägt von Suchen und Finden. Wir stellten uns der Frage: Wie bekommt man so viele Kinder mit ihren Erfahrungen unter einen Hut? Wie wollen wir als Kinderdorffamilie zusammenleben? Das war schon manchmal nervenaufreibend und stressig. Aber wir hatten uns als Paar, das war ganz wichtig. Und wir hatten beide ähnliche Vorstellungen von einem Familienleben. Das hat es uns leichter gemacht. Wir haben mit drei Jungen im Haus 1 begonnen. Auch eine Kollegin wohnte mit uns im Haus. Bis Sommer kamen weitere Kinder hinzu, so dass wir insgesamt acht Kinder betreuten. Später erhöhte sich die Zahl auf durchschnittlich neun Kinder.
Thomas Müller: Die Kinder kannten keine Abläufe, keine gemeinsamen Essenszeiten. Die Regeln und Rituale mussten erst vermittelt werden. Auch Hygiene mussten wir den Kindern beibringen, angefangen von Kleiderwechsel bis zum täglichen Waschen. Manche Hausregeln bestehen bis heute. Wenn man keine Regeln vermittelt, meint jeder, er wäre am schlechtesten dran und fühlt sich überbenachteiligt. Strukturen helfen, wenn neue Kinder in die Gruppe kommen. Dann achten die anderen Kinder bereits darauf und die Neuen schauen es sich ab. Man muss dann nicht mehr so viel sagen. Für unseren Zusammenhalt haben gemeinsame Unternehmungen beigetragen: Ausflüge zu Freunden oder Wanderungen. Und wir feiern gerne Feste. Das schafft positive Erlebnisse.
Wie war es, als ihr Sohn Sebastian geboren wurde? Wie hat er seine Kindheit im Kinderdorf verbracht?
Rita Kiefer-Müller: Zu dem Zeitpunkt funktionierte die Gruppe schon gut. Die Kinder waren voll mit einbezogen, begleiteten uns zu Ultraschalluntersuchungen ins Krankenhaus und richteten das Kinderzimmer mit ein. Zu dieser Zeit hatten wir Supervision. Dies hat uns unterstützt und uns als Paar sehr geholfen, eine Kleinfamilie in der Großfamilie zu werden.
Thomas Müller: Sicherlich musste er sich oft arrangieren, aber es war für ihn normal, im Kinderdorf aufzuwachsen. Er kannte es nicht anders. Manchmal hätte er sich mehr Zeit mit seinen Eltern gewünscht, sicherlich hatte er schon Sehnsüchte. Dennoch lebte er gerne in der Großfamilie und hatte enge Bindungen zu Erziehern aufgebaut.
Wie viele Kinder haben Sie als Kinderdorfeltern großgezogen?
Rita Kiefer-Müller: 40 Kinder wohnten langfristig, mehrere Jahre in unserer Kinderdorffamilie bei uns. 13 Kinder wurden Inobhut für einige Tage oder Wochen genommen.
Aus welchen Gründen werden Kinder in einer Kinderdorffamilie aufgenommen?
Rita Kiefer-Müller: Die Gründe sind unterschiedlich. Früher konnten die Eltern nicht für die Kinder sorgen, es fehlte den Kindern an vielen grundlegenden Dingen. Manche Kinder hatten damals Angst, dass es nichts zu essen geben könnte, sie machten regelmäßig die Töpfe auf und es verschwand auch Essen. Auch der pflegerische Anteil war groß. Heute würde man sicherlich von Verwahrlosung und Vernachlässigung sprechen.
Thomas Müller: Heute liegen die Gründe eher in der Überforderung der Eltern. Psychische Erkrankungen kommen häufiger vor. Die Kinder zeigen Verhaltensauffälligkeiten. Sie verfügen zwar über Materielles, aber zeigen größere Probleme im Sozialverhalten. Viele Kinder befinden sich in Therapie, da sie viele Verhaltensweisen erst noch erlernen müssen und Defizite aufarbeiten müssen. Manchmal stoßen wir dabei an Grenzen. Die Kinder brauchen Zeit. Die Kinder, die in der Kinderdorffamilie aufgenommen werden, haben bereits vieles in ihrer Persönlichkeitsentwicklung durchgemacht. Sie werden dort abgeholt, wo sie gerade stehen. Wenn sie in die Pubertät kommen, kann man nur vorleben und die Grenzen zeigen und die Jugendlichen müssen entscheiden, welche Richtung sie einschlagen werden.
Wie alt war ihr jüngstes Kind, welches Sie aufgenommen haben?
Rita Kiefer-Müller: Der kleinste Junge war vier Jahre alt. Für einen Zeitraum von sechs Wochen hatten wir auch ein Baby aufgenommen.
Was hat Sie als Kinderdorfmutter besonders bewegt?
Rita Kiefer-Müller: An ein prägnantes Erlebnis im ersten Jahr im Bethanien Kinderdorf erinnere ich mich. Wir hatten zu der Zeit drei Geschwisterjungen. Nach einem Besuch hat die Mutter den vierjährigen Jungen einfach nicht mehr mitgebracht. Das war für mich ein echter Schock. Mir wurde klar, die Kinder haben alle Eltern, ich bin nicht die Mutter, ich bin kein Ersatz. Ich musste lernen, mich emotional zu schützen. Die Kinder lieben ihre Eltern. Wir können den Kindern ein zweites Zuhause bieten, wir können ihnen vieles weitergeben und vorleben, aber wir können keine Ansprüche emotionaler Art an die Kinder stellen. Das war zwar ein negatives Erlebnis, aber dennoch eine wichtige und positive Erfahrung, denn es hat uns später einiges erleichtert.
Wie besteht der Kontakt weiter zu den erwachsenen Kindern?
Rita Kiefer-Müller: Zu einigen Ehemaligen bestehen intensive Bindungen. Manche pflegen häufig Kontakte, manche melden sich eher unregelmäßig. Wenn Sie mich um Rat fragen, macht mich das wirklich stolz.
Thomas Müller: Ich würde sagen zu zwei Drittel besteht nach wie vor eine enge Beziehung. Im Kontakt mit „Ehemaligen“ geht es um Beratung bei Problemen in der Partnerschaft, bei finanziellen Problemen, bei Krankheit und bei pädagogischen Fragen zur Erziehung der eigenen Kinder. Aber auch um schöne Ereignisse, wie Hochzeit und Schwangerschaft. Ohne beidseitig gewachsenes Vertrauen, wäre diese Kontaktpflege nicht möglich. Viele kommen auch zu unseren Ehemaligentreffen. Diese finden zweimal im Jahr statt: im Sommer und zu Weihnachten. Dann kommen auch die Ehepartner und die Familien mit. Das ist immer wieder schön. Die „Idee“ der Ehemaligentreffen entstand auf Wunsch der Kinder.
Wie haben Sie es im Alltag mit bis zu 10 Kindern geschafft, die Zeit für gemeinsame Aktivitäten als Ehepaar zu finden?
Rita Kiefer-Müller: Das war gar nicht immer so einfach. Hilfreich war, dass wir uns beide hatten, wir konnten uns über vieles austauschen. Wir konnten uns aufeinander verlassen. Jedoch nimmt man auch vieles mit ins Private und es vermischt sich. Und wenn man bei pädagogischen Themen nicht einer Meinung ist, laufen die Diskussionen weiter. Sehr früh haben wir uns Freiräume eingeräumt, alleine und als Paar. Wir haben uns kleine Oasen als Paar geschaffen. Das ist sehr wichtig, ansonsten geht man irgendwann unter, die Zeit verrinnt und man merkt gar nicht, dass es zu spät sein könnte.
Thomas Müller: Wir waren immer zu zweit, wir hatten uns. Alleine kann ich mir die Aufgabe in einer Kinderdorffamilie nicht vorstellen. Wir hatten immer eine Ansprechperson, wenn es Schwierigkeiten gab. Es gab auch Phasen als der eine mal ausgebrannt war und der andere dann mehr gefordert war. Im Jahr 2008 entstand bei uns der Wunsch, Arbeitsleben und Privatleben neu zu bewerten, insbesondere mit dem Blick auf den Ausstieg aus dem Berufsleben. Im Austausch mit der Kinderdorfleitung und mit Zustimmung des damaligen Geschäftsführers, konnten wir beide ein Viertel Sabbatjahr aushandeln. Diese Zeit war für uns ein großes Geschenk.
Welche Voraussetzungen gibt es für die Tätigkeit als Kinderdorfmutter bzw. Kinderdorfeltern? Welche Tipps geben Sie weiter?
Rita Kiefer-Müller: Kinderdorfmutter oder Kinderdorfeltern zu sein, ist kein Beruf wie jeder andere sondern eine Berufung. Vorausgesetzt wird eine pädagogische Ausbildung oder ein pädagogisches Studium. Oft ist ein Spagat zwischen liebender Akzeptanz und pädagogischer Professionalität zu schaffen. Tipps aus meiner Erfahrung? Als Kinderdorfmutter bringt man sich sehr persönlich ein. Emotional muss ich als Kinderdorfmutter die Kinder ankommen lassen. Gleichzeitig muss ich mich persönlich emotional zurücknehmen können, vieles kann ich geben, aber ich kann keine Dankbarkeit erwarten. Bei Enttäuschungen besteht die Gefahr, dass das Verhältnis zum Kind kippt.
Thomas Müller: Weites Herz, großer Busen genügt nicht. Da gehört eine fundierte pädagogische Ausbildung dazu und vor allem muss man lernen, emotional mit den Situationen umzugehen. Jeder sollte gut für sich selbst sorgen: emotional und zeitlich.
Was schätzen Sie an der Kinderdorfgemeinschaft im Bethanien Kinderdorf in Eltville?
Rita Kiefer-Müller: Das Miteinander tut einfach gut.
Thomas Müller: Kollegen als Nachbarn, der Austausch und die Gemeinschaft sind toll. Wir feiern zusammen wunderschöne Feste. Das Zusammengehörigkeitsgefühl im Kinderdorf ist etwas Besonderes.
Wie haben Sie „Ihren Ausstieg“ als Kinderdorfeltern vorbereitet?
Rita Kiefer-Müller: Nach und nach erfolgte die Übergabe von Verantwortung und die Verteilung von Aufgaben an das Team. Im Januar 2019 zogen wir aus. Der Abschied wurde mit einer Auszugsparty mit Pizzaessen in den leeren Räumen zelebriert. Für mich war es am schwersten, nicht mehr für alles verantwortlich zu sein, nicht zu wissen, wer nachfolgen wird, und los zu lassen. Wir begleiten die von uns aufgenommenen Kinder weiterhin bis zu ihrem Auszug. Gleichzeitig nehmen die KollegInnen die neuen Kinder auf. Es ist ein laufender Prozess, der viel Flexibilität erforderlich macht. Aber für alle Beteiligten scheint es der richtige Weg zu sein. Im Mai steht nun der Abschied von der Kinderdorfgemeinschaft an. Ich werde weiterhin im Team „Flexible Hilfen“ die Jugendlichen im außenbetreuten Wohnen begleiten. Aber der Abschied wird mir trotzdem schwer fallen. Da brauchen wir einen „Cut“, wir würden gerne ein paar Tage wegfahren. Wir werden aber weiterhin dem Haus 1 ehrenamtlich treu bleiben und auch mal einspringen, so als eine Art Großeltern habe ich mir das vorgestellt. Wir wollen als Ansprechpartner für die Kinder da sein und die Kontakte aufrecht erhalten.
Thomas Müller: Wir haben unseren Ausstieg bewusst und lange vorbereitet. Uns stellte sich die Frage: Gibt es ein Leben nach dem Kinderdorf? Haben wir uns noch was als Paar zu sagen? Die Arbeitszeit haben wir reduziert, um mehr Zeit für uns zu haben. Der Auszug letztes Jahr war schwierig, aber jetzt läuft es gut. Der richtige Zeitpunkt ist da, um einen neuen Lebensabschnitt zu beginnen.
Was werden Sie vermissen?
Rita Kiefer-Müller: Das harmonische, nette Zusammensein werde ich vermissen. Die guten Gespräche und das Miteinander, trotz der Reibungspunkte, die man auch manchmal hatte.
Thomas Müller: Der enge Kontakt zu den Kindern wird mir fehlen. Das hat uns auch jung gehalten. Man bleibt am Puls der Zeit, wenn man sich auf die Kinder und Jugendlichen einstellen muss.
Und worauf freuen Sie sich am meisten?
Rita Kiefer-Müller: Auf meine eigene Terrasse. Der Alltag war oft fordernd. Die Verantwortung fällt nun allmählich ab. Ich freue mich darauf, mehr zur Ruhe zu kommen.
Thomas Müller Auf Urlaub. Wir sind schon immer gerne gereist. Aber auch unser Zuhause wollen wir uns gemütlich herrichten.