Ehemalige – Menschen, die uns wichtig sind
Die Erwachsenen, die als Kinder und Jugendliche eine Zeit im Kinderdorf gelebt und die über diese Zeit hinaus familiären Kontakt ins Kinderdorf haben, nennen wir „unsere Ehemaligen“. Da schwingt ein gewisser elterlicher Stolz mit, sowohl in Bezug auf die Entwicklung der früheren Kinder als auch auf uns selbst, die zu dieser Entwicklung beigetragen haben.
Allerdings, wenn wir ehrlich sind: der Name ist nicht ganz richtig. Der Begriff Ehemalige enthält das Risiko, die Menschen, die eine Zeit lang im Kinderdorf gelebt haben, auf diese Phase ihres Lebens zu reduzieren. Im Kinderdorf übernehmen wir die Rolle der sozialen Eltern. Wir folgen damit der bethanischen Idee vom „Leben teilen“. Damit machen wir deutlich, dass wir als Erwachsene unser ganzes ungeteiltes Menschsein in den Kontakt zu den Kindern einbringen und Beziehungen eingehen, die nicht auf zeitlich eingeschränkte Jugendhilferegelungen reduziert werden. Mit dem Wort „Ehemalige“ wollen wir deutlich machen, dass uns die Kinder und Jugendlichen am Herzen liegen, dass sie uns nicht egal sind, dass wir Kontakt halten und pflegen möchten, dass wir sie nicht fallen lassen.
Das Kinderdorf – ein wichtiger Lebensabschnitt
Viele Kinder profitieren während ihrer Zeit im Kinderdorf von den Erwachsenen, von der Zuwendung, von den Bemühungen um Wohlbefinden und Entwicklung. Das wissen wir von vielen persönlichen Berichten und auch aus der Ehemaligenbefragung. Manche Kinder und Jugendlichen rebellieren und verlassen das Kinderdorf im Streit. Sie verstehen die Entscheidungen, die die Erwachsenen getroffen haben, nicht und fragen sich, warum alles so kompliziert war und ist und warum sie nicht so leben können und konnten, wie die anderen Kinder, die bei ihren Eltern aufwachsen. Allerdings erleben wir immer wieder Einzelne, die im Rahmen einer therapeutischen Aufarbeitung den Kontakt ins Kinderdorf suchen, nach ihrer Akte fragen und nach Antworten auf ihre biografischen Fragen hoffen. Diese Anfragen beantworten wir gerne, ermöglichen Zugang zu den alten Akten und bieten Gespräche zur Erläuterung der alten Unterlagen an.
Ehemaligenarbeit ist Kontaktpflege
Wie in allen Familien verlassen unsere Kinder spätestens als junge Erwachsene das Kinderdorf und gehen eigene Wege. Ob sie später noch Kontakte halten, ist davon abhängig, ob sie das selbst möchten und ob die Erwachsenen im Kinderdorf diese Kontakte anbieten und ermöglichen. In vielen Fällen gibt es den Kontakt, aber es gibt auch bei den Erwachsenen Brüche, Abschiede, Krankheiten oder gar Todesfälle. Dann fehlt der Mensch für den Kontakt. Wir haben in den Kinderdörfern versucht, ein Patensystem aufzubauen und Ansprechpartner zu benennen, aber unsere Erfahrung ist: die Ehemaligen folgen eher den Spuren ihrer Beziehungen als den Strukturen. Der Kern der Bethanien Ehemaligenarbeit ist die völlig selbstverständliche, alltägliche Kontaktpflege der heutigen und ehemaligen Kinderdorfmütter, dabei auch alle Ordensschwestern, die in ihrem Leben eine Zeitlang als Kinderdorfmütter gewirkt haben. Sie besuchen die Ehemaligen und ihre heutigen Familien, sind Mutter und Oma und Uroma, freuen sich über schöne Ereignisse, nehmen an Festen teil, unterstützen und beraten, telefonieren und schreiben, machen sich Sorgen und beten und zünden eine Kerze an, wenn eine besondere Lebensprüfung stattfindet. Sie tragen die Lebensbelastungen mit, trauern über Krankheiten, Schicksalsschläge und Trennungen und sind da, wenn man sie braucht. Diese Verbindungen halten oft ein Leben lang.
Autor: Dr. Klaus Esser, Kinderdorfleiter im Kinderdorf in Schwalmtal
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