Die Entscheidung, eine eigene Familie gründen und Mutter bzw. Vater werden zu wollen, ist ein großer Meilenstein auf dem persönlichen Lebensweg. Fortan ist man nicht nur für sich selbst, sondern auch für ein Kind – oder auch mehrere – verantwortlich. Isabel Nowak hat die Dimension dieser Entscheidung praktisch versechsfacht, indem sie die Entscheidung traf, ab Juni 2023 Kinderdorfmutter einer sechsköpfigen Kinderdorffamilie zu werden. Wir haben sie für ein Interview getroffen, mitten in der Vorbereitungsendphase und kurz bevor die ersten Kinder eingezogen sind.
Ja, also ich heiße Isabel Nowak, bin 38 Jahre alt und seit 2015 im Bethanien Kinderdorf. Ich habe damals mit einem Bundesfreiwilligendienst hier angefangen, habe dann ein duales Studium „Soziale Arbeit“ absolviert und mich letztes/vorletztes Jahr dazu entschieden, eine Kinderdorffamilie zu gründen. In meinem „ersten Leben“, also bevor ich beim Bethanien Kinderdorf angefangen habe, habe ich Germanistik und Theologie auf Lehramt studiert.
Wir sind aus beruflichen Gründen relativ viel umgezogen. Geboren bin ich in Bonn, ich war eine Zeitlang in Kaiserslautern und in Trier habe ich studiert. Tatsächlich habe ich über das Buch von Sr. Jordana, das ich gelesen habe, vom Bethanien Kinderdorf erfahren.
Hier bin ich relativ nah dran an Orten, die mir wichtig sind, also Eltern und Familie. Meine Familie ist ungefähr eine Stunde von hier weg, in verschiedene Himmelsrichtungen. Und so dachte ich: „Okay, das ist doch dann machbar und gut und alle wichtigen Orte noch gut erreichbar.“ Und dann kam, nachdem ich Eltville kennengelernt habe, noch dazu, dass Eltville total toll ist und die Leute hier einfach ein netter Menschentyp sind, den ich sehr sympathisch finde.
Das ist eine gute Frage. 2015 bin ich in unserer damaligen heilpädagogischen Gruppe gestartet. Die Betreuung war pädagogisch herausfordernd und nicht immer einfach für mich. Aber die Kids in der Gruppe sind mir, in all ihrem herausfordernden Verhalten, einfach richtig ans Herz gewachsen! Manchmal fragten mich die Kinder: „Warum gehst du?“ und „Wann kommst du wieder?“.
Es gibt da diese Geschichte, als ich einen zwölfjährigen Jungen ins Bett gebracht habe, die mich immer noch berührt:
Er: „Isa, ich will nicht, dass du gehst“.
Ich: „Ich komm ja morgen wieder“.
Er: „Ja, ich will aber, dass du heute Nacht hierbleibst.“
Ich bin dann irgendwann aus dem Raum gegangen, da rief er mich zurück:
„Isa, komm nochmal her, ich hab da ’ne Idee: Ich träum heute Nacht von dir und du träumst heute Nacht von mir und dann treffen wir uns einfach heute Nacht nochmal wieder, dann bist du gar nicht so lange weg.“
So, und das war so ein Moment, wo ich dachte: Wow, für „unsere Kinder“ ist die Tatsache, dass jemand da ist und auch wirklich ganz da ist, einfach unglaublich wichtig. Da kam die Idee mit der Kinderdorffamilie zum ersten Mal auf. Damals hatte ich einen Erziehungsleiter, der mich angesprochen hat, ob ich nicht Lust hätte, das zu machen, aber ich habe abgewunken, weil mir das „zu groß“ war. Die Frage ist dann aber eigentlich die letzten drei Jahre immer mitgegangen und irgendwann hab ich gesagt: „Ok.“ (lacht)
In diesem Supervisions-Prozess während des Anwärterjahrs, der über ein Jahr ging, habe ich verschiedene Kinderdorffamilien besucht, sowohl in Eltville als auch in Schwalmtal und Bergisch Gladbach. Da konnte ich jeweils drei bis vier Wochen sein. So bekam ich neue Einblicke und Impulse und konnte sehen: Wie verstehen die anderen Kinderdorfmütter jeweils das, was sie machen? Da hat jede ihren eigenen Zugang, ihre eigene Art, ihre eigenen Prioritäten. Es war ein Jahr, wo ich immer mal wieder gesagt hab, „Ok, ich freu mich drauf“ und dann wieder „Oh hey, doch nicht, das ist mir doch zu groß. Kann ich das überhaupt? Hab ich die Qualifikation dazu, bin ich belastbar genug?“ Es ist schließlich eine Verantwortung, die man übernimmt, und da sollte man sich vorher genau überlegt haben, ob man das kann und will.
Es braucht eine abgeschlossene pädagogische Ausbildung und natürlich die persönlichen Qualifikationen. Innerhalb eines Supervisions-Prozesses wird zum Beispiel auf die eigene Familiengeschichte geschaut: Was sind die eigenen Erfahrungen? Und ansonsten ist es ein Jahr des Kennenlernens und des Austauschs.
Ja, sicher hab ich das gemacht. (lacht) Wenn man die Möglichkeiten hat, warum soll man es nicht machen? Das sind teilweise Frauen, die das seit 20, 25 Jahren machen. Wir haben viel geredet, überlegt und reflektiert.
Es ist für mich aber ein Riesengeschenk, das man sich mit den anderen Kinderdorffamilien austauschen kann. Das habe ich als sehr, sehr wertvoll erlebt. Ich weiß, dass ich mich bei ihnen melden kann, wenn irgendwas ist. Und das braucht es auch! Eine Kinderdorffamilie zu gründen ist eine Herausforderung. Doch vieles hat sich auch verändert. Die Kinder, die zu uns kommen, bringen heute ein anderes Päckchen mit als die, die vor 20, 30 Jahren kamen.
Wenn ich mich mit Rita oder Thomas, ehemalige Kinderdorfeltern im Haus 1, austausche, sagen sie: Früher war es anders, da waren die Verhaltensauffälligkeiten nicht so ausgeprägt, da stand die Grundversorgung im Mittelpunkt. Ich persönlich glaube, dass Corona vielen Kindern und Familien zugesetzt hat, die es vorher schon schwer hatten. Klassische Gründe, warum die Kinder zu uns kommen, sind Vernachlässigung, Gewalt, Drogen, Missbrauch der Eltern, also einfach verschiedene Sachen. Themen, wo die Eltern dann nicht mehr in der Lage sind, in dem Moment gut für die Kinder zu sorgen. Wo wir dann hier versuchen, diese Ersatzelternrolle zu übernehmen; im Idealfall nur so lange, bis die Eltern wieder auf den Beinen sind und die Kinder zurückkommen. Und manchmal dann eben auch als dauerhafte Unterstützung. In Zusammenarbeit mit den Eltern, soweit das möglich ist.
Das Ankommen muss eng begleitet werden, weil die Kinder eine Geschichte mitbringen und wir für sie erst mal fremd sind. Sicherheit ist auf jeden Fall ein großes Thema. Wir wollen ihnen zuallererst vermitteln, dass sie sich hier sicher fühlen können. Und ihnen einen Rahmen geben, in dem sie sich wohlfühlen können. Ihnen klar machen, dass sie sich auch dann sicher fühlen können, wenn es ihnen mal nicht gut geht, wenn alte Geschichten wieder hochkommen, die dann erst wieder verarbeitet und sortiert werden müssen. Das führt ja oft dazu, dass Themen wie Wut und Aggression ans Tageslicht kommen. Das auszuhalten ist ja auch für die Erwachsenen nicht immer ganz einfach. Man kann die Lebensgeschichte der Kinder nicht ändern, man kann nur versuchen, sie anders weiterzuschreiben. Sachen wie Respekt, Sicherheit, Lebensfreude und Humor, wieder dahin zu kommen, dass das Leben Spaß macht, oder zumindest zeitweise Spaß macht, das ist für mich ein ganz wichtiger Faktor.
Ich habe im Moment sechs Plätze und das Aufnahmealter ist zwischen 4 und 6 Jahren. Die Jugendlichen bleiben bis zum 18. Lebensjahr im Kinderdorf. Wobei die Beziehungen, die in dieser Zeit wachsen, auch nach der Zeit weiter bestehen bleiben. Man ist und bleibt auch über das 18. Lebensjahr hinaus Bezugsperson.
Ich glaube, es wird eine Herausforderung sein zu merken: Man würde dem Kind jetzt gerne irgendetwas anbieten, was hilft und man findet es nicht. Die eigene Ohnmacht auszuhalten. Sei es, weil ich nicht den richtigen Ton finde, sei es, weil das Kind meine Hilfe aus irgendeinem Grund nicht annehmen kann. Und natürlich der eigene Geduldsfaden bei sechs Kindern. In unserer Kinderdorffamilie sind ja Menschen, die sich einander nicht ausgesucht haben, sondern die zusammengewürfelt worden sind und jetzt miteinander leben. Und da ein gutes Miteinander-Leben zu gestalten, in einer Weise, dass sich alle wohlfühlen – das wird glaube ich eine Herausforderung.
Wir haben hier eine tolle Kinderdorfgemeinschaft. Ich weiß, ich bekomme jederzeit Unterstützung. Das fängt an beim Zwieback, der mir vielleicht gerade fehlt, und geht weiter bis zu dem Kind, das so wütend ist und nicht mit mir reden will, sondern sich lieber an die Kollegin aus dem Nachbarhaus wendet. Das ist hier völlig unkompliziert. Auch wenn ich das Jahr zurückblicke, welche Organisation seitens Leitung, Verwaltung, Haustechnik, Erziehungsleitung, psychologischer Fachdienst an der Eröffnung einer neuen Kinderdorffamilie hängt… Es klappt nicht immer alles, das ist auch klar, aber ich habe das Gefühl, dass wir hier einen echt guten Umgang miteinander haben. Das ist auch wirklich das Schöne an diesem ganzen Kinderdorf-Setting: Man ist hier nicht alleine!
Gerade am Anfang wird’s bestimmt noch zu wuselig, aber ich habe mir vorgenommen, kleine Auszeiten für mich einzuplanen: Meine „Oasen“ sind so Sachen wie Sportvereine oder Menschen, die mir einfach guttun. Oder auch ein Spaziergang in den Weinbergen. Auftanken kann ich auch in der gemeinsamen Zeit mit meinem Partner.
In 10 Jahren hoffe ich, dass ich sagen kann, ich habe das ganze hinlänglich gut gemacht – ich glaube, perfekt wird’s nicht. Aber dass ich sagen kann: Okay, ich habe mein Bestes gegeben und mich immer wieder bemüht, mich auf die Kinder einzulassen und den Alltag mit Geduld und möglichst viel Liebe und Verständnis gestaltet. Dass das ein oder andere Kind sagt: Ja, es war nicht die perfekte Lösung, weil Kinderdorf nie die perfekte Lösung ist, aber im Rahmen dessen, was möglich war, war das eine gute Lösung, und ich hatte hier eine gute Zeit und habe gute Erfahrungen gemacht. Und wenn es mir auch gut geht und ich gesund und munter bin, dann wäre das schon schön, ja.
Das Interview führte Christina Bergold.