Drei Mal im Jahr veröffentlichen wir mit der Hilfe von externen Sponsoren ein Kinderdorfmagazin, den Kidoblick, um über das Leben in den Kinderdörfern zu informieren, aber auch um Fachthemen auszuführen. Diese Fachthemenbeiträge stellen wir Ihnen in unserem Neuigkeitenportal zur Verfügung.
Der Glücksfall menschlicher Begegnung: Wer wir sind? Was uns ausmacht? Ein Blick zurück und nach vorn
Nicht nur Sie fragen sich vielleicht: was ist der Unterschied zwischen einem Kinderdorf und einem Kinderheim? Ich selbst habe mich das auch gefragt, vor nun bald 12 Jahren, als ich die Leitung des Bethanien Kinder- und Jugenddorfes in Bergisch Gladbach übernommen habe. Doch schon bald hatte ich ein echtes Schlüsselerlebnis: bei der Verabschiedungsfeier einer langjährigen Kinderdorfmutter in den verdienten Ruhestand sprang plötzlich eine ca. 40-jährige Frau auf, das Gesicht gezeichnet von sicher belastenden Erfahrungen und schweren Jahren, lief mit einer selbst gebastelten Foto-Collage nach vorne, umarmte die Kinderdorfmutter und rief laut, dass es jeder hören konnte: „Du wirst immer meine Mutter sein“. Das hat mich sehr bewegt und mir schlagartig klar gemacht, dass es etwas gibt, was der bekannte Koblenzer Pädagoge Prof. Dr. Christian Schrapper jenseits pädagogischer Professionalität als den „Glücksfall menschlicher Begegnung“ bezeichnet hat.
Untersuchungen bei ehemaligen Heimkindern haben ergeben, dass genau dieser Faktor wegweisend war dafür, ob und was sie mitgenommen haben aus ihrer Zeit der (amtsdeutsch) „öffentlichen Erziehung“. Das familienanaloge Leben in einer Kinderdorffamilie schafft die Bindung und Verbindlichkeit, die dazu beiträgt, dass Kinder sich fallen lassen können, sich öffnen können (auch schwierig sein dürfen) und dennoch immer aufgehoben fühlen. Die pädagogischen Mitarbeiter in einer Kinderdorffamilie sind dabei die unverzichtbare Unterstützung.
Aber warum haben die Bethanien Kinderdörfer in den letzten Jahren auch viele andere Jugendhilfeformen und -angebote entwickelt, die es doch auch in „normalen“ Kinderheimen oder professionell aufgestellten Jugendhilfezentren gibt? Geht das denn zusammen?
Wir meinen: Ja, das geht zusammen und das geht gut zusammen. Erstens muss jede Jugendhilfeeinrichtung sich immer wieder neu fragen, was brauchen die Kinder und Jugendlichen, die jetzt in unserer Gesellschaft aufwachsen?
Zweitens bekommen wir als Kinderdörfer ja gerade viele Anfragen für Geschwis – terkinder und diese Kinder sehen wir nicht nur als Geschwister, sondern fragen uns bei jedem Kind, was es braucht.
Die Kinder, die zu uns kommen, bringen immer öfter auch motorische und psychosoziale Beeinträchtigungen mit, auf die wir Antworten finden müssen und wollen. So ist es eine natürliche Konsequenz, dass wir auch unsere Kinderdörfer fachlich weiter ausbauen. Unsere Aufgabe bleibt es, wachsam und behutsam für Kinder und Jugendliche auch heilpädagogische, therapeutische und erlebnispädagogische Hilfen vorzuhalten, ohne das Wesentliche eines Kinderdorfes, nämlich die gelebte Infrastruktur, das Dorf als soziale Gemeinschaft, das Wissen von- und umeinander, die gegenseitige „Nachbarschaftshilfe“, die gemeinsame Fest- und Feierkultur und eine möglichst hohe personelle Konstanz aus dem Auge zu verlieren. In diesem Sinne sind die Strukturen Kinderdorf und Jugendhilfezentrum keine Gegensätze, sondern können sich sinnvoll ergänzen – und wir sind dabei miteinander auf einem guten Weg.
Martin Kramm,
Kinderdorfleiter Bergisch Gladbach