DIE GESCHICHTE EINES EHEMALIGEN
MARCEL ESSER ERZÄHLT
Als Marcel Esser ins Kinderdorf ziehen soll, will er dort nicht hin. Als er dort wohnt, will er wieder weg. Doch als er dort nicht mehr wohnen darf, will er zurück.
ENDE AUS MICKY MAUS
Zum ersten Mal öffnet Marcel die Tür in sein neues Zimmer, sein neues Zuhause. Auf dem Bett entdeckt er ein Willkommensgeschenk, ein Kuscheltier. Es ist eine Ente. Kinderdorfmutter Marlene erinnert sich noch genau an sein Zimmer: weiße Wände, in der Mitte liegt ein Spielstraßenteppich, dahinter zwei Holzschreibtische und ein skandinavisches Stockbett. Denn das Zimmer ist nicht für Marcel allein – er wird es sich mit seinem kleinen Bruder teilen.
Das Bethanien Kinderdorf liegt in Schwalmtal, einem kleinen Ort am Niederrhein, 19.000 Einwohner. Gegründet wurde das Kinderdorf nach dem zweiten Weltkrieg 1956 von den Dominikanerinnen von Bethanien. Mittlerweile leben dort 140 Kinder und Jugendliche, die aus unterschiedlichen Gründen nicht mehr bei ihren leiblichen Eltern wohnen können. Wie in einem richtigen Dorf gibt es auch im Kinderdorf eine Kirche, Spielplätze, Sport- und Freizeitangebote wie einen Reiterhof, eine Musikschule und eine Freizeitwerkstatt. Natürlich gibt es auch Wohnhäuser, jedes in einer anderen Farbe gestrichen und mit einem besonderen Namen: Brückenhaus, Lindenhaus, Kastanienhaus, Tannenhaus oder Ährenhaus.
Es ist Mitte Mai 1998 als Marcel gemeinsam mit seinem kleinen Bruder Domenik ins Bethanien Kinderdorf gebracht wird. Marcel ist fünf Jahre alt, als er ins Wiesenhaus zieht. Hier lebt Kinderdorfmutter Marlene nun bereits seit 6 Jahren. „Am Anfang hat er immer mein Portemonnaie und auch die Vorräte gecheckt“, erinnert sich Marlene. Er wollte wissen, ob auch genug da ist. Am ersten Abend bereitete Marlene den Esstisch für das Frühstück am nächsten Tag vor.
„Was machst du da?“, fragte Marcel.
„Ich bereite schon mal den Tisch vor, damit wir morgen keinen Stress haben.“
„Woher weißt du denn überhaupt, dass wir morgen noch etwas zu essen bekommen?“
Wie ein kleiner Junge auf so eine Frage kommt? Marcel muss früh Verantwortung übernehmen und sich um seinen kleinen Bruder kümmern. „Ick hab in Mülltonnen nach Essen für mich und meinen Bruder gesucht, als meene Mutter im Knast war“, erzählt der heute 26-jährige Maurer-Lehrling. Sechs, sieben Jahre wohnt er in Berlin und hat den Dialekt schon wie ein gebürtiger Berliner verinnerlicht. Er löffelt sein Bananensplit in einem Café in Ludwigsfelde, nahe seiner Wohnung. Er hat sich den Zeh gebrochen und kann nicht weit laufen. Er ist schlank, hat braune Haare und braune Augen, einen offenen Blick.